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Wie es weiterging: Pubertät, Partys, Pumpe

Gelegentlich frage ich mich, wer oder was mir beim Erwachsenwerden mit Diabetes geholfen hätte. Die Antwort lautet: sehr wahrscheinlich der Austausch mit anderen Diabetiker/innen. Aber im letzten Jahrzehnt vor Social Media und Blutzuckersensoren, an denen man andere DiabetikerInnen in freier Wildbahn erkennt, kannte ich einfach niemanden, der oder die sich ununterbrochen den gleichen Herausforderungen zu stellen hatte wie ich. Und weil ich diesen gewichtigen Teil meines Lebens mit niemandem wirklich teilen konnte, war (unbewusste) Verdrängung über weite Strecken die einfachste Option für mich.

Jahrelang waren weder meine Blutzucker-,
noch meine innere Einstellung hinsichtlich Diabetes ideal:

Emotional fehlte mir der Rahmen, in den ich meine Diagnose einordnen und an dem ich mich im Alltag orientieren hätte können; medizinisch wurde ich an der Grazer Kinderklinik gut betreut. Aber weder strenge Blicke noch lobende Worte änderten grundlegend etwas an meiner mangelnden Blutzuckerkontrolle – jahrelang nahm ich mit nur 2-3 Messungen pro Tag die Möglichkeit gravierender Folgeschäden in Kauf. Das geschah weder aus Trotz noch aus Unvermögen, sondern einzig und allein aus Desinteresse. So schwankte mein HbA1c über ein Jahrzehnt zwischen etwa 7,8 % und 8,8 % (62-73 mmol/mol nach heutiger Messmethode).

Im Nachhinein ist dieser Leichtsinn für mich nicht ganz einfach zu akzeptieren. Durchblutungsstörungen, Herzinfarkt, Sehstörungen oder gar Erblindung, schwere Nieren- und Nervenschäden bis hin zur Amputation aufgrund des diabetischen Fußsyndroms… Die Liste potentieller Folgeschäden aufgrund hoher Blutzuckerwerte ist sehr schwer zu verdauen. Heute weiß ich: Wegschauen ist der falsche Weg. Denn so mühsam es auch sein mag, im Alltag ständig die Oberhand über die eigene Blutzuckerkurve zu behalten – der Umgang mit Folgeschäden wäre definitiv beschwerlicher. Im Idealfall sollte der HbA1c jedenfalls unbedingt unter 58 mmol/mol (7,5 %) liegen – ohne häufige Unterzuckerungen.

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Ich war allerdings nie eine Diabetikerin der Extreme: Schwere Unterzuckerungen blieben mir ebenso erspart wie ein diabetisches Koma oder gar Diabulimie (eine schwere Essstörung, bei der DiabetikerInnen kein Insulin spritzen, um (schneller) abzunehmen). So blieb meine Pubertät – aus diabetischer Sicht – auch relativ ereignislos. Dank einer guten Hypoglykämie-Wahrnehmung wachte ich nach dem Konsum von Alkohol jedes Mal rechtzeitig auf, um mithilfe von schnellwirksamen Kohlenhydraten Schlimmeres zu vermeiden. Besser wäre es natürlich gewesen, ich hätte mir nachts den Wecker gestellt, um meinen Blutzucker engmaschig zu kontrollieren…

Alkohol beeinträchtigt die Neubildung von Zucker in der Leber und senkt deshalb noch Stunden nach dem eigentlichen Konsum den Blutzucker. Schon ab 0,45 Promille Alkohol im Blut ist die Zuckerfreisetzung aus der Leber gehemmt. Genau berechnen lässt sich der Einfluss von alkoholhaltigen Getränken auf den Blutzuckerspiegel allerdings nicht, denn dieser ist unter anderem von Geschlecht, Größe, Gewicht, etwaiger zusätzlich konsumierter Kohlenhydrate und vor allem der Art des Getränkes abhängig: Bier und Likör enthalten beispielsweise auch Kohlenhydrate, die den Blutzucker sehr schnell ansteigen lassen;  bei Schnaps ist z. B. das Gegenteil der Fall. Deshalb ist es wichtig, den Blutzucker bis zu 12 Stunden nach Alkoholkonsum genau im Auge zu behalten, um Hypo- oder Hyperglykämien zu vermeiden. Achtung: Alkohol kann die Hypowahrnehmung stark mindern!

Hohe Blutzuckerwerte über viele Stunden hinweg machten mich zwar unendlich müde, waren aber auszuhalten. Ich fühlte mich sicher, und ließ mich aus diesem Grund von meiner Diagnose auch nicht beeinträchtigen. Im Nachhinein wundere ich mich oft darüber, dass nie etwas Schlimmeres passiert ist… Besser wäre es gewesen, ich hätte öfter ein Auge auf mögliche Konsequenzen gehabt.

Viele Reisen, Partys, Alkohol, Fast Food, Süßigkeiten, wenig Bewegung, ein Auslandsjahr… Alles kein Problem für mich! Aber für meinen Blutzucker.

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Den Start in mein heutiges, aktives Leben mit Diabetes verdanke ich auch meinem Mann. Als wir uns kennenlernten, war ich gerade 22 Jahre alt geworden und im Begriff, mein erstes Studium abzuschließen. Bei unserem ersten Treffen nahm ich, so wie ich es gewohnt war, unauffällig meinen Pen aus der Tasche, um einen schnellen Bolus abzugeben – möglichst, ohne die Unterhaltung dabei zu unterbrechen.

Bis zu diesem Zeitpunkt waren Gespräche meist wie folgt kurz aus dem Ruder gelaufen, wenn mein Gegenüber bemerkte, was gerade vor sich ging:

- Was machst du da?

- Ich spritze Insulin; ich bin Diabetikerin.

Als Antwort wahlweise:

1. Oh mein Gott, ich könnte nie spritzen! Ich hasse Nadeln!

2. Du Arme! Also darfst du gar keinen Zucker essen?

3. Meine Oma/Großtante/Katze hat auch Diabetes! Wieso kannst du nicht einfach Tabletten nehmen?

4. Aha, hast du das für immer?

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Je nach Tagesverfassung bzw. Motivation folgten meinerseits entweder Berichtigungen und die Erläuterung der verschiedenen Diabetestypen, oder auch nur eine knappe Antwort à la:

Wenn dein Leben davon abhinge, könntest auch du spritzen – glaub mir.

Mein Mann ließ sich allerdings nicht so einfach abspeisen: Er wollte alles genau wissen. Er stellte viele Fragen und in weiterer Folge auch einige meiner Handlungen infrage: Er erinnerte mich freundlich, aber bestimmt daran, meinen Blutzucker zu messen. Er interessierte sich für die körperliche Anstrengung und emotionale Herausforderung und fand sich nicht mit meinen einsilbigen Antworten ab. Er recherchierte das Thema Folgeschäden, das ich selbst nur allzu gern verdrängte, und brachte ein weiteres ins Spiel:

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Warum trägst du eigentlich keine Insulinpumpe?

Ich konnte ihm diese Frage nicht genau beantworten – es dürfte wohl eine Mischung aus der Angst vor Sichtbarkeit und jener vor technischer Abhängigkeit gewesen sein. 

Trotzdem ließ ich mich ein Jahr später dazu überreden, eine schlauchlose Insulinpumpe zu probieren. Diese Entscheidung habe ich bisher keine Sekunde lang bereut! Die Möglichkeit, im Alltag flexibel auf bestimmte Situationen zu reagieren, hat mich schließlich voll überzeugt: So kann ich beispielsweise bei Speisen mit hohem Fettanteil, der die Aufnahme von Kohlenhydraten ins Blut verlangsamt, einen verzögerten Bolus abgeben (I’m looking at you, pizza!), bei Bewegung und Sport die Basalrate reduzieren, oder an gewissen Tagen meines Zyklus, an denen mein Insulinbedarf durch hormonelle Veränderungen erhöht ist, auch die Basalrate anpassen. Auch mein Mann hat sich an mein neues Dasein als Cyborg schnell gewöhnt. Allerdings ist die Entscheidung für oder gegen eine Insulinpumpe eine sehr persönliche, die jede/r Diabetiker/in in aller Ruhe für sich selbst treffen muss… Wie ich es schaffe, heute gut mit meiner Erkrankung zu leben und worauf man als Diabetiker/in in der kalten Jahreszeit besonders achten sollte, liest du im nächsten Artikel!